Name: Randi Goertz
Schuljahr: 2009/2010
Unterrichtsfach: Geschichte
1 Einleitung
Zum Thema meiner Facharbeit wählte ich einen Teil meiner eigenen
Familiengeschichte, weil mich die Geschichten meines Großvaters
Eduard Popko schon immer sehr interessiert und berührt haben.
Er wurde 1938 in Zamostecze in der heutigen Ukraine geboren und musste
somit in seiner Kindheit die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs hautnah
miterleben. In meinen Ausführungen werde ich auf die Umsiedlung
und die Flucht bzw. Vertreibung von Millionen Menschen aus Osteuropa
anhand der Geschichte der Familie Popko während dieser Zeit eingehen.
Der Zeitraum lässt sich in drei unterschiedliche Phasen einteilen,
die ich einzeln betrachten und chronologisch beschreiben werde: die
Umsiedlung 1939/1940, das Leben in den Jahren 1940 bis 1945 und die
Flucht im Jahr 1945. Da der Zweite Weltkrieg ein sehr komplexes Thema
in der Geschichte des 20. Jahrhunderts darstellt, würde es den
zeitlichen und formalen Rahmen übersteigen, die gesamten Vorgänge
dieser Zeit darzulegen. In meiner Arbeit werde ich aber, zum besseren
Verständnis des Themas, die wichtigsten historischen Aspekte
der Umsiedlung, sowie der Flucht darstellen. Den Schwerpunkt lege
ich auf das Beispiel der Familie Popko.
Da mein Großvater zu Beginn der Umsiedlung 1940 erst zwei Jahre
alt war, ziehe ich, besonders bei der Darstellung der Umsiedlung,
oftmals die Erinnerungen Eduard Bütows in meine Facharbeit mit
ein. Eduard Bütow wurde ebenfalls in Zamostecze geboren. Die
Jahre 1939-1945 beider Familien, Popko und Bütow, verliefen sehr
ähnlich. Das Ziel meiner Arbeit ist es, mithilfe der Geschichte
meines Großvaters, zu einem gewissen Teil nachvollziehen zu
können unter welchen schlechten und grausamen Lebensbedingungen
Umsiedler und Flüchtlinge während des Zweiten Weltkriegs
ihre Heimat verlassen mussten und, insbesondere bei der Flucht 1945,
um ihr bloßes Überleben zu kämpfen hatten.
2 Erläuterungen
2.1 Wolhynien
Das Gebiet Wolhynien lag im Nordwesten der heutigen Ukraine. Die Fläche
betrug ungefähr 220 000 km². Im Westen wurde es vom Bug,
dem heutigen Grenzfluss zwischen der Ukraine und Polen, begrenzt.
Im Norden reichte es an das größte Sumpfgebiet Europas,
die Pripjatsümpfe in Weißrussland und im Osten erstreckte
sich Wolhynien bis hinter den Fluss Teterew. Im Süden grenzte
das Gebiet an die Karpaten.
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Abbildung 1: Übersichtskarte
der Ukraine (gelb: Wolhynien)
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2.2 Bug-Holländer
In den Jahren 1520-1550 verließen sehr viele Niederländer
aufgrund von Kriegen, Plünderungen und vor allem religiöser
Verfolgung durch die Inquisition ihre Heimat und emigrierten gen Osten.
Besonders Protestanten wurden um 1530 von Kaiser Karl V. unterdrückt,
vertrieben und vernichtet. Preußen war eines der Hauptziele
der niederländischen Emigranten, da Gebiete im Weichsel-Delta
nach Kriegen und Dammbrüchen neu besiedelt werden mussten. Teile
dieser Flüchtlinge zogen weiter nach Osten und gründeten
1617 die Kolonie Neudorf-Neubruch am Bug. Von dort aus wurden im Laufe
der Zeit weitere Tochterkolonien am Bug gegründet. Diese Siedlergruppe,
mit dem Begriff "Bug-Holländer" bezeichnet, hielt an
ihrer holländisch-niederdeutschen Art fest. Sie bildete eine
Gemeinschaft, die in sich geschlossen war und zusammen hielt. Die
Bug-Holländer gehörten der evangelisch-lutherischen Religion
an. Die Frage nach der Nationalität der Bug-Holländer wurde
erst 1939 zu Beginn des Zweiten Weltkriegs gestellt. Der Bauernführer
und Leiter des Umsiedlungsamtes bekam als Antwort auf seine Nachfrage
nach St. Petersburg, dass die Nationalität der Siedlergruppe
nicht festgelegt sei. Er schlug daraufhin vor, "Deutsch als Nationalität
festzulegen, sie [die Bug-Holländer] lehnten nicht ab" und
somit waren sie Deutsche.
2.3 Volksdeutsche
Der Begriff Volksdeutsche ist ein von den Nationalsozialisten geprägter
Ausdruck. Er bezeichnet Menschen, die die deutsche Sprache sprachen,
dem deutschen Kulturkreis angehörten aber keine deutsche, österreichische
oder schweizerische Staatsbürgerschaft besaßen. Sie lebten
hauptsächlich in Ost- und Südosteuropa.
3 Die Umsiedlung der "Volksdeutschen"
1939/1940
3.1 Historischer Hintergrund
"So habe ich, einstweilen nur im Osten, meine Totenkopfverbände
bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidslos Mann,
Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken.
Nur so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen." (Aus:
Mitschrift einer Ansprache Hitlers vor Offizieren der Wehrmacht, 22.
August 1939)
Am 23. August 1939 schloss Hitler mit Stalin einen deutsch-sowjetischen
Nichtangriffspakt, den sogenannten Hitler-Stalin-Pakt. Er beinhaltete
ein geheimes Zusatzprotokoll, in dem Osteuropa in Interessensphären
aufgeteilt wurde. Nach dem Überfall auf Polen am 1. September
1939 sollte das von Deutschland besetzte polnische Gebiet, das als
"Eingegliederte[s] Ostgebiet(e)" bezeichnet wurde, innerhalb
von zehn Jahren vollkommen "eingedeutscht" werden. Hierzu
sollten ungefähr 7,8 Millionen Polen und ca. 700 000 Juden verjagt
und "Volksdeutsche" aus sowjetischem Einflussgebiet an ihrer
Stelle angesiedelt werden. Am 07. Oktober 1939 ernannte Hitler den
Chef der SS Heinrich Himmler zum "Reichskommissar für die
Festigung deutschen Volkstums" und beauftragte ihn damit, die
Volks- und Reichsdeutschen aus dem Ausland zurückzuführen
und den "schädigenden Einfluss volksfremder Bevölkerungsteile"
auszuschalten. Es wurde extra für dieses Vorhaben ein "bürokratischer
Apparat" aufgebaut, der sich auf die Organisation der Umsiedlungen
spezialisierte.
Im Dezember 1939 begannen die Aussiedlungsmaßnahmen zur Vertreibung
der polnischen Bürger. Sie wurden unter brutalen Bedingungen
ins sogenannte Generalgouvernement abgeschoben um Platz für die
"Volksdeutschen" zu schaffen. Das Generalgouvernement war
"ein 'Nebenland' des deutschen Reiches", "das allein
auf Terror und Ausplünderung der polnischen Ressourcen ausgerichtet
war" . Die später angesiedelten "Volksdeutschen"
waren allerdings von ihrer Anzahl her nicht in der Lage, das freigewordene
Gebiet genügend auszufüllen. Die
Germanisierungspolitik Hitlers, die durch die SS auf grausame Art
und Weise durchgeführt wurde, war "ein Schritt zur 'Neuordnung
Europas'" . Außerdem sollte hierdurch deutscher Lebensraum
im Osten geschaffen und besiedelt werden. Über 900.000 "Volksdeutsche"
waren Opfer dieser Umsiedlungen.
3.2 Das Beispiel der Familie Popko
Die Familie Popko bestand 1939 aus vier Personen: meinem Großvater
Eduard Popko (*1937), seinem älteren Bruder Ewald Popko (*1932)
und den beiden Eltern Josef Popko und Melitta Popko geborene Ryll
(laut Einbürgerungsurkunde Melida ). Die Familie besaß
in dem kleinen Ort Zamostecze am Bug in der heutigen Ukraine eine
kleine Landwirtschaft. Im Januar 1940 erfuhren sie von den Bevollmächtigten
der SS durch einen öffentlichen Aufruf von der Möglichkeit
zur Umsiedlung. Die Umsiedlung war freiwillig. Für die meisten
Einwohner von Zamostecze gab es allerdings keinen Grund in ihrem Heimatsort
zu bleiben, da sie sich keiner unberechenbaren Zukunft aussetzen wollten.
Alle Einwohner über 16 Jahre mussten beim Umsiedlungskommando
unter dem SS-Oberführer Hoffmeyer persönlich erscheinen
um einen Antrag auf Umsiedlung zu stellen. Es reichte eine mündliche
Erklärung Deutscher/Deutsche zu sein um in die Umsiedlungsliste
eingetragen zu werden. Man erhielt eine Umsiedlerkarte, die um den
Hals getragen werden musste und eine Art Ausweis darstellte. Nachdem
Vermögenslisten der einzelnen Familien erstellt worden waren,
durfte alles mitgenommen werden, was die Familie auf einen zweispännigen
Pferdewagen laden konnte. Ausgenommen hiervon waren Edelmetalle und
-steine, Die Umsiedlung verlief laut meinem Großvater und Eduard
Bütow geordnet. Wege und Zeiten waren genau geplant. Am 25. Januar
1940 begannen die Bewohner aus Zamostecze mit ihren Pferdewagen morgens
um zwei Uhr die Reise in Richtung Deutsches Reich. Es war - 40°C
kalt und es lag meterhoher Schnee. Die Kinder saßen auf den
Wagen, dick in Federbetten eingewickelt, doch die Kälte spürten
sie trotzdem. Nach ungefähr 2 Stunden erreichte der Treck die
Grenze (den Grenzfluss Bug bei Dorohusk), wo eine Kontrolle russischer
und deutscher Kontrollgruppen stattfand. Auf der anderen Seite des
Bugs, im Deutschen Reich, wurde der Treck von der Umsiedlungskommission
empfangen. Es waren hohe Eisenöfen vorhanden an denen sich die
Leute aufwärmen konnten, außerdem gab es heißen Tee
aus Feldküchen. Der Weg von hier wurde per Eisenbahn fortgesetzt.
Die Familien fuhren nach Chelm in das erste Zwischenlager. Die Pferdegespanne
wurden in andere Waggons geladen und nach Pabianice bei Lodz transportiert.
Am Abend des gleichen Tages kamen die Familien aus Zamostecze in dem
Zwischenlager in Chelm unter. Dort blieben sie neun Tage, bis zum
03. Februar 1940. Mit der Deutschen Reichsbahn wurden die Umsiedler
weiter nach Pabianice bei Lodz in ein sogenanntes Rückwandererlager
gebracht, das im Generalgouvernement lag. Dort wurden Schlafräume
nach den Familiengrößen verteilt. Räume zum Kochen
und Waschen mussten sich mehrere Familien teilen, ebenso wie Toiletten.
Im Lager gab es ärztliche Versorgung und die Möglichkeit
in einem Geschäft Lebensmittel und Getränke zu kaufen. Die
Gesundheit aller "Rückwanderer" wurde "nach gesundheitlichen
und völkischen Gesichtspunkten" untersucht. Über 16-Jährige
erhielten einen "Rückkehrerausweis des 'deutschen Reichs'
mit Reichsadler und Hakenkreuz". Unter 16-Jährige wurden
auf den Ausweisen der Eltern verzeichnet und bekamen eine Kennkarte.
Die Bug-Holländer erhielten zu diesem Zeitpunkt noch keine Einbürgerungsurkunde
und waren demnach keine deutschen Staatsbürger. Es fand außerdem
eine Massendesinfektion der Umsiedler statt. Sie mussten, nach Geschlecht
getrennt, in große Desinfektionsanstalten. Dort kam "warmes
Wasser mit Desinfektionsmittel gemischt" aus an der Decke angebrachten
Rohren. Im April 1940 wurden 23.300 Umsiedler, unter dem Vorwand die
deutsche Sprache erlernen zu müssen, mit der Deutschen Reichsbahn
wiederum in andere Lager im "Deutschen Reich" gebracht.
Die Bug-Holländer, die die Nazis als "Hauländer"
bezeichneten, wurden als "Fremdstämmige" angesehen.
Daher mussten auch sie in diese sogenannten "Beobachtungslager".
Die Familie Popko kam nach Gunzenhausen bei Erlangen in Bayern. Dort
wurde Adolf (laut Geburtsurkunde eigentlich Johann ), der dritte Sohn
der Familie Popko , geboren. Die Familie war mit vielen anderen in
einer Turnhalle untergebracht. Der eigentliche Zweck der "Beobachtungslager"
war die "rassisch-völkische(n) Überprüfung und
Bewertung der Umsiedler nach vorgeschriebenen NS-Rassenkriterien"
. Die Umsiedler wurden nach verschiedenen Bewertungskriterien untersucht.
Es gab die Einteilung in vier verschiedene Kategorien, "von erstklassigen
Menschen nordischer Rasse (I) bis [zu] völlig unausgeglichenen,
östlichen und baltischen Mischlingen (IV)" . Außerdem
wurden Menschen mit fremdem Volkstum in unterschiedliche Gruppen eingeteilt.
Die "körperliche Konstitution" und die "Geistige
Wertung" wurden ebenfalls untersucht. Abschließend zu den
Untersuchungen wurden alle über 16-Jährigen zu einem Gespräch
mit einem SS-Offizier geladen, in dem gute Deutschkenntnisse, "arisches
Aussehen" und "Bekenntnis zu Führer, Volk und Vaterland"
gefordert waren. Je nach Beurteilung der Umsiedler, wurde ihnen ein
Hof mit entsprechend großem Grundstück zugeteilt. Vier
Monate später, Mitte August 1940, wurden die Umsiedler, denen
ein Hof zugesprochen worden war, mit der Deutschen Reichsbahn wieder
nach Pabianice bei Lodz befördert. Von dort kam die Familie Popko
vermutlich im Dezember 1940 mit der Bahn nach Mühlenfelde im
Kreis Jarocin (heute Mieszkow) im "Reichsgau Wartheland".
Die Umsiedlung der Familie Popko war mit der Ankunft in Mühlenfelde
beendet.
3.3 Karte der Umsiedlung von Familie
Popko
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Abbildung 2: Umsiedlungsweg
der Familie Popko
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4 Die Familie Popko in den Jahren
1940-1945
In Mühlenfelde wurde der Familie Popko von den Deutschen eine
Landwirtschaft zugeteilt. Sie bekamen einen Hof mit Stallungen. Die
Häuser, Geschäfte und Landwirtschaften, die den umgesiedelten
"Volksdeutschen" gegeben wurden, gehörten eigentlich
Polen oder Juden, die von den Deutschen kurz vorher vertrieben bzw.
deportiert worden waren. Das Wartheland war folglich ab 1940 größtenteils
von "Volksdeutschen" besiedelt. Zwar waren noch einige Polen
in ihrer Heimat geblieben, diese dienten dann aber den neu angesiedelten
"Volksdeutschen" als Arbeitskräfte. Die Familie Popko
hatte einen polnischen Knecht, der der Mutter Melitta auf dem Hof
half. Anderen Kontakt gab es nicht zu den dagebliebenen Polen. Den
deutschen Kindern war es nicht erlaubt mit polnischen Kindern zu spielen.
"Das wurde nicht gewünscht" . Freundschaftliche Kontakte
zwischen Deutschen und Polen wurden nicht gestattet.
Kurz nachdem die Familie nach Mühlenfelde kam, wurde der Vater
Josef als deutscher Wehrsoldat einberufen und an die Westfront geschickt.
Durch den eigenen Hof war die Versorgung der Familie gewährleistet.
Sie hatten eigenes Vieh, das sie schlachten konnten und was sie nicht
selbst auf dem Hof produzierten, kauften sie im Dorf. Dort gab es
einen Müller, einen Bäcker und Geschäfte. Lebensmittel
standen der Familie also in ausreichendem Maße zur Verfügung.
Die Familie war, wie fast alle Bug-Holländer, evangelisch. Ihrer
Religion gingen sie auch in Mühlenfelde nach, allerdings gab
es im Ort selbst keine Kirche. Ab und zu fuhren sie mit der Kutsche
in die Stadt um zur Kirche zu gehen. Das war allerdings etwas umständlich,
deswegen gab es diese Unternehmung nicht regelmäßig. In
den Familien und in der Nachbarschaft war Religion ein wichtiges Thema.
Manchmal kam der Pfarrer in die Gemeinden um die Familien und die
Kinder zu betreuen. 1942 gebar Melitta ihr viertes Kind, Frieda. Es
gab die Möglichkeit die Kinder in den Kindergarten zu schicken.
Das war allerdings nicht so gewünscht, da es nur einen polnischen
Kindergarten gab. In der Stadt gab es eine deutsche Schule, zu der
der älteste Sohn Ewald und später auch mein Großvater
Eduard gingen. Zur Schule kam man von Mühlenfelde aus nur mit
dem Zug. Täglich gingen die Kinder nicht zur Schule, da der Weg
nicht immer so einfach zurückzulegen war. An Sonntagen kamen
die Familien oft zusammen um den Tag gemeinsam zu verbringen.
Am 6. Januar 1944 bekam die Familie Popko eine Einbürgerungsurkunde.
Sie waren somit Bürger des "Deutschen Reiches".
In diesem Jahr wurde außerdem das fünfte Kind geboren,
Anne. Melitta Popko bekam das "Ehrenkreuz der deutschen Mutter",
da sie fünf Kinder geboren hatte. Außerdem stand der Familie
nun eine polnische Magd zu, die sich um die Kinder kümmerte.
Erst 1945, also kurz bevor die Familie aus Mühlenfelde fliehen
musste, wurde mein Großvater Eduard eingeschult.
5 Die Flucht 1945
5.1 Historischer Hintergrund
Am 18. November 1943 fand ein Treffen der "Großen Drei"
in der sowjetischen Botschaft in Teheran statt. Ziel dieses Treffens
war den alliierten Vormarsch auf das Deutsche Reich zu planen. Außerdem
stand der Verlauf der Nachkriegsgrenzen, insbesondere der von Polen,
auf dem Programm. Stalin wollte die ehemals polnischen Gebiete, die
der Sowjetunion im Hitler-Stalin-Pakt zugesprochen worden waren, behalten.
Er wollte Polen im Westen für diesen Verlust entschädigen
und das Land um ungefähr 200 Kilometer nach Westen bis zur Oder-Neiße-Linie
(die heutige Grenze zwischen Deutschland und Polen) verschieben. Deutschland
sollte dafür Gebiete abtreten. Die ca. neun Millionen östlich
dieser Linie lebenden Deutschen sollten vertrieben werden. Diese Maßnahme
sollte innerhalb der neuen Grenzen für Frieden sorgen und "Minderheitenprobleme
ein für alle Mal bereinigen" . Mitleid mit den Deutschen
gab es kaum, trotzdem sollte die Vertreibung, insbesondere aus Sicht
der Westmächte , in humaner und ordnungsgemäßer Weise
erfolgen.
Nach mehreren Niederlagen Deutschlands drangen schon im Oktober 1944
sowjetische Truppen in Ostpreußen ein. Im Januar 1945 begann
die Großoffensive der Roten Armee und somit eine "der größten
Massenfluchten der bisherigen Geschichte" . Die sowjetischen
Soldaten kamen bei ihren Vorstößen Richtung Westen durch
ehemals sowjetische und polnische Gebiete, die 1941 während des
Russlandfeldzuges von Hitler erobert worden waren. Der Hass auf die
Deutschen und starke Rachegefühle wurden durch den Anblick der
zerstörten und verbrannten Dörfer, denen man das Morden
der Deutschen immer noch ansehen konnte, geschürt. Die Rachsucht
der Sowjets, denen der Krieg bereits elf Millionen Zivilisten genommen
hatte, ließ weder Mitleid noch Barmherzigkeit oder Milde gegenüber
den fliehenden Deutschen zu. Die Flucht war den Bewohnern der Ostgebiete
sehr lange untersagt. Die Nationalsozialisten propagierten die Überlegenheit
und den baldigen Sieg der deutschen Wehrmacht und versicherten, dass
keine Evakuierung der Menschen notwendig war. Hierzu drückte
sich Heinrich Himmler, der den Oberbefehl über die Heeresgruppe
Weichsel besaß, folgendermaßen aus: "Wir organisieren
die Verteidigung, nicht das Davonlaufen." Erst als man die sowjetischen
Panzer sehen oder hören konnte, durften die Menschen vor der
Roten Armee flüchten. Die sowjetische Armee stieß mit einer
Geschwindigkeit von 70 Kilometern pro Tag nach Westen vor. Die zu
Fuß oder mit Hand- oder Pferdekarren fliehenden Menschen waren
nicht selten zu langsam. Ungefähr 1,4 Millionen deutsche Frauen
und Hunderttausende deutsche Männer wurden von den Rotarmisten
vergewaltigt und in Arbeitslager oder nach Sibirien verschleppt. Zehntausende
wurden ermordet oder starben auf der Flucht.
5.2 Die Flucht der Familie Popko
Am 17. Januar 1945, nur rund vier Jahre nach der Umsiedlung, musste
die Familie Popko ihre neu gewonnene Heimat Mieszkow, Kreis Jarocin,
wieder verlassen. Sie flüchteten mit dreizehn weiteren Familien
aus der Umgebung mit Pferdegespannen vor der herannahenden sowjetischen
Armee. Die Kinder saßen auf den Wagen, die älteren liefen
nebenher. Nur sechs Tage später, am 23. Januar, eroberte die
Rote Armee die Kreisstadt Jarocin. Unter den Flüchtlingen waren
vorwiegend Frauen, Kinder und Männer ab 65 Jahren , denn die
meisten Väter und Großväter waren im Krieg oder schon
in der Kriegsgefangenschaft. Die Mutter Melitta musste sich um fünf
Kinder kümmern, das Jüngste, Anna (laut Urkunde Erna), war
gerade mal acht Monate alt. Der Älteste, Ewald Popko, der zwölf
Jahre alt war , musste die Rolle des Familienoberhauptes übernehmen
um die Mutter zu entlasten. Zum Glück waren Melittas Vater, J.
Ryll, und ihr Schwiegervater, Michael Popko, nicht im Krieg und konnten
ihr ebenfalls etwas Unterstützung geben. Ebenso wie ihre Schwester
Rosa. Die polnischen Knechte und Mägde begleiteten den Treck
bis zur Oder und steuerten so ihre Hilfe bei.
Es war, wie bei der Umsiedlung 1940, wieder sehr kalt und die Flüchtlinge
mussten mit den Pferdewagen durch den Schnee. Zudem waren die Wege
auch sehr glatt, was das Vorankommen des Trecks erheblich einschränkte.
Die Pferde hatten keine Stollen in den Hufeisen und rutschen auf dem
gefrorenen Boden. Aufgrund des schnellen Vorstoßens der Roten
Armee kamen den Flüchtlingen deutsche Wehrmachtskolonnen entgegen,
die möglichst schnell Posen erreichen wollten. Posen wurde zur
Festung erklärt um die Rote Armee aufzuhalten. Die Wehrmachtskolonnen
räumten sich den Weg rücksichtslos mit einer SS-Panzereinheit
frei. Die Flüchtlingstrecks wurden von "den Straßen
runter gejagt nach rechts und links, denn die Wehrmacht hatte Vorfahrt"
. Die deutsche Wehrmacht forderte von den Flüchtlingen, eins
von den zwei Pferden des Gespanns abzugeben. Mein Großvater,
ebenso wie sein Bruder Ewald, kann sich noch gut daran erinnern, dass
deren Großvater sich weigerte dem Wehrmachtsoffizier eins seiner
Pferde zu geben. "Da hat der Offizier meinem Opa mit einer Eisenstange
auf den Arm geschlagen und das Pferd dann geklaut." Die russischen
Fliegerbomber schossen auf Militärkolonnen und in die Flüchtlingstrecks.
In dem Treck von Familie Popko wurden durch solche Angriffe keine
Menschen getötet, allerdings starben zwei Pferde. Dieser Treck
hatte Glück, von den Angriffen der Russen war er relativ wenig
betroffen. Man sah und hörte die Flieger, wurde aber kaum beschossen.
Die Angst davor gab es aber. Den Straßenrand säumten auf
beiden Seiten tote Pferde, tote Menschen und Verletzte. Im Schnee
sah man rote Blutlachen. Den Verletzen konnten die Flüchtlinge
nicht helfen, da sie selber kaum etwas hatten. Hin und wieder gaben
die Mütter oder ältere Frauen den Verwundeten etwas, aber
das war nicht der Regelfall.
Auf der Flucht starb das ungefähr drei Monate alte Kind der im
gleichen Treck fliehenden Familie Hüneburg. Es wurde "schweren
Herzens" am Straßenrand im Schnee begraben und von dem
Küster Adolf Ryll, der auch aus Zamostecze stammte, gesegnet.
Der 12-jährige Johann Popko verlor während der Flucht seine
Mutter und seine Schwester. Er hatte keine Schuhe und lief auf Socken
mit dem Treck mit. Zu essen gab es während der Flucht viel zu
wenig. "Hunger gab es immer." Auf dem Weg gab es ab und
zu Aufenthalte um sich auszuruhen und zu stärken. Diese waren
meistens in Schulen oder Ställen, die vom Roten Kreuz ausgeräumt
worden waren. Mein Großvater beschreibt eine "starke Bedrohung"
die während der Flucht bestand. Am 18. Februar 1945 war der Treck
der Familie in Unterfarnstädt, in Sachsen-Anhalt angekommen.
Dort bekamen die Familien Zimmer auf großen Gutsbesitzerhöfen
zugesprochen. Die Flucht war beendet, die Bedrohung vorbei.
5.3 Karte des Fluchtwegs der Familie
Popko
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Abbildung 3: Der Fluchtweg
der Familie Popko
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6 Fazit
Durch das Darstellen von Umsiedlung und Flucht der Familie Popko während
des Zweiten Weltkriegs, wurde deutlich, dass die Umstände unter
denen sie zu der Zeit lebten, sehr schlecht waren. Innerhalb von wenigen
Jahren haben sie zweimal ihre Heimat verloren und mussten lange Strecken
durch eisige Kälte und Schnee zurücklegen. Sie mussten die
rassistische Behandlung der Nationalsozialisten über sich ergehen
lassen und sahen sich während der Flucht einer tödlichen
Bedrohung durch die Angriffe der Russen, den Hunger und die Kälte
ausgesetzt. Grausame Erlebnisse haben meinen Großvater und alle
mit ihm Fliehenden geprägt. In dem Interview ist mir aufgefallen,
dass er sehr distanziert über seine Erlebnisse sprach. Ich denke,
dass dies seine Art ist mit dem Erlebten umzugehen. Mithilfe meiner
Arbeit kann ich die Grausamkeiten der Vertreibung in Kriegszeiten
um einiges besser nachvollziehen und hoffe, dass solch schlimme Ereignisse
allen Menschen in Zukunft erspart bleiben können.